Das Auswärtige Amt
- Lisa Wegmann
- 16. Okt. 2024
- 8 Min. Lesezeit
Im letzten Post in dieser Serie, habe ich mich zu meiner Schulzeit geäußert. Und vor allem zum bilingualen Abitur. Aber wie das immer so ist, hat man ja nie ausgelernt und ist man auch nie fertig. Eine er größten Ungerechtigkeiten, die mir bis zu meinem 18en Lebensjahr wiederfahren sind, ist die Tatsache, dass man 8 Jahre lang auf’s Abitur hinarbeitet und dann, noch bevor man es in der Hand und endlich alles geschafft hat, Pläne machen muss für danach. Es fühlte sich einfach nicht richtig an. Für fast ein Jahrzehnt war meine einziges Ziel das Abitur und auf einmal gibt es auch ein Leben danach? Und ich muss Entscheidungen treffen?

Glücklicherweise muss man ja Praktika machen und sich in der Berufswelt orientieren. Theoretisch hätte ich in meiner Schulzeit 3 Praktika machen sollen. Ein normales in der 10ten Klasse, das Sozialpraktikum in der 11ten und dann ein Duales Praktikum in der 12ten. Allerdings entschied ich mich dazu eine Klasse zu überspringen und wechselte nach dem ersten Halbjahr der 10ten Klasse ins zweite der 11ten. Dadurch verpasste ich nicht nur zwei Praktika sondern auch zwei Klassenfahrten…Aber der Punkt ist eher der, dass ich nur ein Praktikum machen konnte, nämlich das duale. Dies war ein Praktikum das die Uni Münster anbot. Die Idee ist, dass Schüler*Innen eine Woche lang an verschiedenen Vorlesungen teilnehmen und dann eine Woche in einem Beruf arbeiten, der mit diesen Vorlesungen zu tun hat. Ich entschied mich für die Fächer Geschichte und Kommunikationswissenschaften, fand ersteres klasse und letzteres sehr vage und absolvierte die zweite Woche bei der Denkmalpflege der Stadt Münster, wo ich bei Ausgrabungen am Sentmaringer Weg helfen durfte und im Fundarchiv Scherben und Knochen sortierte. Sehr cool. Aber nichts, das ich auf lange Sicht machen wollte. Und wie all die weisen Eltern, Lehrer, Großeltern und Nachbarn von vornherein sagten: Im schlimmsten Fall lernst Du im Praktikum, was Du nicht machen willst. In der Tat.Allerdings half mir das wenig in Bezug auf eine eventuelle Ausbildung oder ein Studium. Wegen meiner Begeisterung für Sprachen und der Tatsache, dass ich auch Nachhilfe in Französisch gegeben hatte, schlugen viele meiner Freundinnen vor, ich solle Englisch und Französisch auf Lehramt studieren. Das wollte ich aber nicht.Auf der einen Seite, weil ich nicht direkt für meine Geduld bekannt bin und auch keine Autorität ausstrahle. Die Frage wäre also, wie gut eine Klasse voll 13-Jähriger und ich selbst 45 Minuten zusammen überstehen würden. Aber noch viel weniger Lust als auf aufsässige Jugendliche hatte ich auf deren Eltern. Während meine Eltern generell davon ausgingen, dass meine Noten (gut oder schlecht) meinem Verhalten geschuldet waren, gab (und gibt) es viele Eltern, die vor allem schlechte oder wenige gute Noten den Lehrern zuschreiben. „Was tun Sie um meinem Kind die Hausaufgaben schmackhaft zu machen?“ statt „Warum machst Du Deine Hausaufgaben nicht?“
Da ich als Mitglied der SV regelmäßig mit einem Kaffeewagen durch die Schule spazierte, bekam ich viele Gesprächsfetzen mit und konnte ich auch feststellen, dass die meisten Eltern, die kein Problem mit den Lehrern haben nicht zum Elternsprechtag kommen. Ich sah mich direkt beim ersten Gespräch schon explodieren. Das war vermutlich nichts für mich.
Ein anderer Grund, aus dem ich die Sprachen nicht studieren wollte, war der, dass, wie ich schnell herausfand, ein Sprachenstudium nicht Spracherwerb ist, sondern Sprachtheorie. Es wird wirklich auf die Entwicklung einer Sprache eingegangen. Wie sind wir an unsere heutigen Worte gekommen, warum benutzen wir sie so, wie wir sie benutzen? Welche Bedeutung hatten sie ursprünglich und warum hat die sich verändert? Alles Fragen, deren Antworten ich heute mit Begeisterung lauschen würde, aber eine Klausur würde ich zu dem Thema immer noch nicht schreiben wollen. Und es wäre Wissen, das einem im Lehrerberuf wahrscheinlich wenig helfen würde. Wenn ich vor einer Horde Sechstklässler*Innen stehe, die nicht verstehen warum sie nicht „goed“ sagen können, wenn „walked“ völlig in Ordnung ist, dann ist der Ursprung beider Verben vielleicht interessant, aber eben auch irrelevant. Selbst dann, wenn er zum Unterschied der Vergangenheitsform beigetragen hat. Das geht der sechsten Klasse viel zu weit. Und wird auch nicht in der Klassenarbeit abgefragt.
Außerdem befürchtete ich, dass ein solcher Deep Dive in die Sprache eventuell den gleichen Effekt haben könnte, wie Analysen sie, meiner Erfahrung nach auf hübsche Gedichte haben. In der Oberstufe waren fast alle Klausuren auf Textanalyse gerichtet. In Geschichte erhielten wir historische Texte, die wir geschichtlich einordnen sollten und aus zeitgenössischer, sowie heutiger Perspektive beleuchten sollten; in Biologie galt es Fachartikel zu bewerten oder die genannten Phänomene und Abläufe zu erläutern; in Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch mussten wir Texte auf Bedeutung und Stilmittel zu analysieren.

Ab und zu ging es um eine Rede – ich ging zu Obama’s erster Amtszeit zur Schule und durfte darum viele seiner Reden analysieren – aber meistens lasen und bearbeiteten wir Lyrik.Es galt also herauszufinden, worum es in einem Gedicht ging, was der Autor uns sagen wollte, wie er das tat, welche Stilmittel und Bilder er oder sie einsetzte, wie sehr wir dem lyrischen Ich vertrauen konnten und wie dies alles mit dem zentralen Thema in Zusammenhang stand. Am Ende einer Unterrichtsstunde oder Klausur war das Blatt mit de Gedicht dann kunterbunt: blauer Textmarker für die Stilmittel, gelber für die immer wieder auftauchenden Themen und pinker für Dinge, die unklar waren, blauer Kugelschreiber für Infos oder Notizen zu den bereits markierten Stellen, schwarzer für andere Notizen und fragen.
Selbst wenn man zu Beginn der Stunde und beim ersten Lesen das Gedicht wunderschön fand, wusste man, dass das nicht so bleiben würde. Denn man las das Gedicht ja nicht nur einmal.
Das erste Lesen war genau das: ein erstes Lesen. Dann folgt ein zweites, das man nutzt um die Zusammenfassung zu schreiben, ein Drittes um sicher zu gehen, dass man auch nichts vergessen hat. Beim vierten Lesen wird das lyrische Ich beurteilt, ist es vertrauenswürdig oder eher nicht? Muss ich darauf näher eingehen? Beim fünften Lesen wird dieser Eindruck geprüft und das Reimschema betrachtet. Das sechste Lesen dient dem markieren und labeln der hervorspringenden Stilmittel, beim siebten werden verstecktere Stilmittel freigelegt. Das achte Lesen konzentriert sich auf zurückkehrende Bilder oder Worte und ihre Bedeutung in Bezug auf das Große und Ganze des Werks. Beim neunten Lesen werden die schwarzen Kuli-Notizen mitgelesen. Was wollte ich mir noch genauer ansehen? Woran muss ich denken? Beim zehnten Lesen werden die gerade gemachten Beobachtungen und geschriebenen Analysen geprüft. Beim elften Lesen geht es darum zu checken, ob man auch wirklich alles benannt hat.

Spätestens beim achten Lesen verloren alle Gedichte ihren Zauber. Sie waren keine poetischen Liebeserklärungen mehr (Mädchenschule, wir haben fast ausschließlich Liebesgedichte gelesen), sondern eine Anhäufung von Reimschema, Metaphern, Vergleichen, Wiederholungen, Klimaxen, Alliterationen, Hyperbeln, Euphemismen, Anaphern, Oxymorons, Ellipsen, Personifikationen und rhetorischen Fragen. Wo ist da der Zauber? Statt warmen Gefühlen, weckte das Gedicht jetzt eher Frust (vor allem, wenn man sicher war etwas vergessen zu haben, aber nicht wusste was).Ich befürchtete, dass eine Sprache, die ich wirklich liebte durch das sehr tiefgehende Studium ihre Schönheit genauso verlieren würde, wie sämtliche Gedichte, die ich in meiner Schulzeit kaputt-analysiert hatte. Das Risiko konnte ich nicht eingehen.
Aber was tut die leidenschaftliche Sprachfanatikerin dann?
Diese ging zur Ausbildungs- und Studiums-Messe in Münster um sich inspirieren zu lassen. Zwischen den Ständen von Meisterbetrieben und Universitäten stand auch einer vom Auswärtigen Amt. Ein netter Herr erklärte mir, dass es jedes Jahr Studienplätze an der Akademie des AuA gibt, die eine neue Generation von Botschafts- und Konsulatsmitarbeiter*Innen ausbildet. Er riet mir, mich auf der Website des AuA schlau zu machen und die verschiedenen Stellenausschreibungen gut durchzulesen. Sprachbegeisterung und -Begabung seien immer ein großer Pluspunkt. Aha!
Ich folgte seinem Rat und war gefesselt vom Profil der Konsulatssekretärin. Die Konsulatsskretäre*Innen sind die Personen die mit ihren Landsleuten in Kontakt stehen, wenn die Botschaft oder Konsulat betreten. Wenn man zum Beispiel als Deutsche in den Niederlanden wohnt und einen neuen Pass braucht, oder im Urlaub in Vietnam seinen Führerschien verliert. Außerdem stand im Profil, dass die meisten Botschafts- und Konsulatsmitarbeiter*Innen nur vier Jahre an einem Standort bleiben um das Risiko auf Verstrickung in der lokalen Gesellschaft und eventuelle Korruption so klein wie möglich zu halten. Das hieße also im Ernstfall: alle vier Jahre ein neues Land, eine neue Sprache, eine neue Kultur. JA! Das! Das wollte ich machen.

Jedes Jahr sind an der Akademie des Auswärtigen Amtes etwa 25 Plätze im ersten Semester frei. In der Regel bewerben sich 2000-2500 Personen auf diese Plätze. Es muss also viel ausgesiebt werden. Das tut das AuA mit verschiedenen Bewerbungsrunden. Die erste ist die Briefbewerbung. Neben Lebenslauf und deutschem Bewerbungsbrief, werden auch Bewerbungsbriefe in zwei Fremdsprachen mitgeschickt. Ich entschied mich für Englisch und Französisch. Da ich in dieser Runde erfolgreich war, durfte ich zu einem der Auswahltage fahren, die in diversen deutschen Städte stattfanden. Ich ließ mich von meinem Vater nach Hannover fahren, wo ich an einem langen Tag drei verschiedene Tests absolvierte. Jeweils einen in Englisch und Französisch, um das angegebene Sprachniveau zu überprüfen und zum Schluss den psychologischen, oder kognitiven Test. Dieser testete logisches Denken und den Umgang mit Stress. Denn als alle Papiere wieder vorne beim Prüfer waren, wurde uns mitgeteilt, dass man diesen Test nicht in Zeit beenden kann, die uns gegeben worden war. Stress war also vorprogrammiert. Ansonsten gab es einige mathematische Aufgaben und Rätsel. Einige waren denen sehr ähnlich, die wir einander bereits in der Grundschule erzählten:
Du musst alles auch nachspielen, was ich Dir sage. Mach mal die (imaginäre) Tür auf. Okay, Du stehst in einem Zimmer, da vor Dir ist eine Kommode mit vier Schulbaden. Mach die erste auf. Darin liegt ein Hut. Setz den auf. Mach die Schublade zu und die zweite auf. Darin liegt ein Messer. Nimm es heraus und schneid dir damit den Kopf ab. Steck den Kopf unter deinen Arm. Leg das Messer zurück und mach die Schublade zu. Öffne die dritte Schublade. Darin liegt ein Bilderrahmen, stell ihn auf die Kommode. Schließe die Schublade und mach die vierte auf. Darin liegt eine Rose. Riech daran.
Natürlich muss die unsichtbare Rose dann unter den Arm gehalten werden, wo sich der abgeschnittene Kopf befindet und nicht an die tatsächliche Nase und alle Kinder lachen und haben Spaß, wenn jemand nicht daran denkt. Die Rätsel im Test waren schwieriger, aber von ähnlicher Art.Wir mussten auch entscheide, ob bestimmte Aussagen wahr oder falsch waren.
Alle Hausschweine sind rosa. Peters Auto ist rosa. Alle Autos sind Hausschweine.
Wahr oder Falsch?
Auch diese Aussagen wurden immer komplizierter und komplexer.
Am Ende des Tages fiel ich in mein Bett in Münster und wartete ungeduldig mehrere Wochen auf mein Ergebnis. Und, Wunder über Wunder, ich wurde nach Berlin eingeladen!
Dort fand die letzte Runde des Auswahlverfahrens in den Räumen der Akademie des Auswärtigen Amtes statt. Die letzten 250 Kandidaten wurden in Gruppen eingeladen um individuell und als Gruppen Aufgaben zu meistern und Fragen zu beantworten, während einige Beamte des AuA zusahen und urteilten. Ich saß mit etwa 7 anderen Personen im Wartezimmer und stellte schnell fest, dass die meisten sehr viel besser qualifiziert waren als ich. Während ich nur mit meinen Leistungskursen Englisch und Französisch aufwarten konnte, saßen mir gegenüber Menschen, die ihr halbes Leben in Griechenland verbracht, oder gerade ihren Bachelor in Skandinavistik gemacht hatten, wodurch sie jetzt fließend Isländisch und Norwegisch sprachen. Ich schätzte meine Chancen als nicht sehr gut ein. Darum überraschte es mich auch nicht sehr, als ich einige Wochen später eine Absage erhielt. Trotzdem erinnere ich mich gerne an diesen letzten Auswahltag und war und bin ich stolz in unter die letzten 250 Kandidaten gekommen zu sein. Außerdem hat man ja auch nicht jeden Tag die Chance das Gelände des AuA zu betreten und sehen.

In meiner Absage stand zudem etwas, auf das ich noch extra stolz sein konnte. Ich erhielt die explizite Erlaubnis mich noch einmal zu bewerben, da ich vor allem wegen meines Alters und meiner geringen Lebenserfahrung abgelehnt worden war. Auf der einen Seite ärgerte ich mich etwas, weil mein Alter und meine Erfahrungen bereist in der Briefbewerbung Thema gewesen waren, auf der anderen Seite war ich sehr begeistert, da die generelle Regel lautete, dass man sich nicht noch einmal bewerben soll, wenn man in der letzten Runde abgelehnt wird. In dieser Runde wird weniger auf Fähigkeiten geachtet und mehr auf das allgemeine Verhalten und die Haltung, die man einnimmt. Passt diese Person ins Auswärtige Amt und kann sie Deutschland im Ausland gut vertreten? Wenn die Antwort auf diese Frage „Nein“ ist, gibt es keine Möglichkeit sich nochmals zu bewerben. Ist sie aber „noch nicht“, dann bleibt die Tür offen. Mir wurde empfohlen es nach einem abgeschlossenem Studium nochmal zu versuchen.
Ich habe also nicht beim AuA gearbeitet. Warum schreibe ich dann überhaupt darüber?Ganz einfach: Ich wollte mich noch einmal bewerben. Und dazu musste ich erst studieren. Am besten im Ausland. Die Absage des Auswärtigen Amtes (bei dem ich mich letzten Endes übrigens nicht noch einmal beworben habe) war direkt mitverantwortlich für meine Entscheidung in den Niederlanden zu studieren.
Und über dieses Studium in den Niederlanden sprechen wir beim nächsten Mal.
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